Schutzfristen vernichten kulturelles Erbe

Hartwig Thomas, 24.10.2018


Mickey chained to copyright

Bewahrung des kulturellen Erbes

Das Public Domain Project besitzt an die 100’000 Schellack-Platten mit Musik aus den Jahren 1900-1960. Das Projekt digitalisiert diesen Fundus laufend und lädt die gemeinfreien Aufnahmen auf die Server von Wikimedia Commons. Damit möchte die Schweizer Stiftung Public Domain das kulturelle Erbe bewahren und dem Studium zugänglich machen für Schüler der Primarschule bis zur Schola Cantorum Basiliensis.

Die Bewahrung des kulturellen Erbes wird vom Urheberrecht eingeschränkt. So sind etwa Aufnahmen nicht gemeinfrei, wenn der Komponist oder Textautor der Musik nicht vor 1947 gestorben ist. Denn die Schutzfrist für Urheberrechte läuft bis 70 Jahre nach dem Tod des letzten Urhebers. Solche Aufnahmen dürfen ohne Zustimmung der Rechteinhaber nicht öffentlich zugänglich gemacht werden. Und diese Zustimmung erhält man grundsätzlich nie. Denn die Rechteinhaber sind nicht eruierbar und die Verwertungsgesellschaften erklären sich für nicht zuständig oder verlangen horrende Summen, ohne dass sie einen Schutz ausserhalb der Schweiz garantieren können.

Die Schutzfrist für Interpretenrechte (“verwandte Schutzrechte”) stellte bisher für dieses Projekt kein Problem dar, da das Aufnahmedatum von allen Schellackplatten vor 1968 liegt. Somit ist die Schutzfrist für die Interpretenrechte mit Sicherheit abgelaufen.

Neu will der Bundesrat in der aktuellen Revision des Urheberrechts diese Schutzfrist für Interpretenrechte von 50 auf 70 Jahre verlängern. Damit würden von denjenigen Werken, deren Urheberrechte abgelaufen sind, in den nächsten 20 Jahren kein neues Werk in die Public Domain fallen. Die Arbeit der freiwilligen und ehrenamtlichen Mitarbeiter läuft weitgehend ins Leere.

Wer profitiert von welchen Schutzfristen?

Auch bei den Parlamentariern, die momentan die Revision des Urheberrechts beraten, scheint der Unterschied zwischen Schutzfristen der Urheberrechte und Schutzfristen der Interpretenrechte nicht immer klar zu sein.

Schutzfrist der Urheberrechte

Die Schutzfrist der Urheberrechte beginnt mit der Entstehung des Werks und endet 70 Jahre nach dem Tod seines letzten Urhebers.

Als die Politiker im Jahr 1992 diese Schutzfrist von 50 auf 70 Jahre erhöhten, machten sie den Rechteinhabern ein Geschenk von jährlich rund 200 Mio Franken.

Diese Rechteinhaber waren weder die Urheber selber noch ihre Witwen oder direkten Nachkommen, denn fast alle von Ihnen konnten schon 50 Jahre nach dem Tod des Urhebers keine Ansprüche geltend machen. Zur Hauptsache nützte die Verlängerung der Schutzfrist für Urheberrechte den multinationalen Musik- und Filmkonglomeraten und ein paar wenigen Urenkeln von Urhebern.

Diese Rechteinhaber haben die Verlängerung der Schutzfristen nicht dazu benutzt, die geschützten Werke im Handel zugänglich zu machen. Sondern stattdessen haben sie einen verzweifelten Kampf gegen die Digitalisierung des kulturellen Erbes und gegen die Publikation auf dem Internet geführt, indem sie alle diese bewahrenden Aktivitäten ohne Unterschied als Piraterie bezeichneten und verfolgten. Gleichzeitig kassierten sie heftige Beträge aus den pauschalen Zwangsabgaben, welche die Bevölkerung für Privatkopie, schulische Nutzung, Hintergrundsmusik, Spitalradios, Smartphones, leere Speichermedien und digitale Netze bezahlt, ohne je ein geschütztes Werk dafür zu nutzen.

Schutzfrist der Interpretenrechte

Die Interpretenrechte (“verwandten Schutzrechte”) beginnen mit der Aufführung eines Werks und enden 50 Jahre nach der Publikation (Erstausstrahlung oder Datenträger).

Wenn also auf einer Schellackplatte (z.B. einer Bach-Sonate) die Musik urheberrechtlich längst gemeinfrei ist, können Interpretenrechte (z.B. von David Oistrach) noch 50 Jahre nach der Publikation der Schallplatte geltend gemacht werden.

Bei diesen Interpretenrechten geht es im Wesentlichen um Rechte an Musik. Bei Büchern kommen keine “Interpreten” ins Spiel, ausser allenfalls bei einer gesendeten Theateraufführung. Bei Filmen legt das Urheberrecht den Regisseur als Urheber fest und die wenigsten Regisseure sind heutzutage schon vor 1947 gestorben.

Der Bundesrat möchte nun auf Druck der multinationalen Musikkonglomerate (Warner, Universal, Sony beherrschen mehr als 80% des Markts) diese Schutzfrist von 50 auf 70 Jahre nach der Publikation des Tonträgers erhöhen. Denn diese möchten ein paar Verkaufsschlager aus den goldenen Siebzigern noch weitere 20 Jahre lang monetarisieren. Damit macht er diesen Oligopolen ein weiteres Geschenk von 200 Mio Franken jährlich, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.

Es geht also bei den Interpretenrechten mitnichten um das Einkommen eines Urhebers, der im Alter von 20 Jahren ein Lied komponiert hat und mit 70 noch eine Aufbesserung seiner Pension daraus beziehen soll, wie gewisse Parlamentarier immer wieder behaupten. Es geht auch nicht wirklich um das Einkommen eines Tenors oder Geigers, der mit 20 bei der Aufnahme einer Schallplatte mitgewirkt hat. Denn dessen Rechte, die übrigens damals noch gar nicht existiert haben, hat er gänzlich der Plattenfirma überschrieben. Und deren Nachfolgerin (aus Übernahmen, Konkursmasse, Fusionen) gebärdet sich heute als Rechteinhaberin und bezeichnet alle Memoinstitutionen (Bibliotheken, Archive, Museen) gerne einmal als Piraten.

Wer bezahlt diese Profite?

Es ist offensichtlich, dass das Musikoligopol massive Profite aus der vorgeschlagenen Verlängerung der Schutzfrist zieht. Sie lässt sich das Lobbying für diese Verlängerung auch mehrere Vollzeitstellen und viel Juristenhonorar kosten.

Bezahlt werden die Profite einerseits von den Käufern von Longsellern, wie etwa Elvis Presley, Michael Jackson und vielen Jazzmusikern, deren urheberrechtliche Schutzfristen sonst abgelaufen wären. Andererseits werden beträchtliche Zwangsabgaben der Bevölkerung abgeschöpft, ohne dass dabei irgendwelche Werke genutzt werden.

Schliesslich entsteht auch ein immaterieller Schaden, nämlich der Verlust des kulturellen Erbes. Die “Rechteinhaber” kassieren zwar, aber sie bewahren nicht. Im Normalfall verfügen sie über keine Exemplar des Werks, dessen Rechte sie geltend machen. Sollte die Aufnahme später einmal gemeinfrei werden, sind die Datenträger schlicht nicht mehr vorhanden. Denn auch das oben erwähnte Public Domain Project kann sich nicht leisten, kulturelles Erbe zu bewahren, welches nicht publiziert werden darf. Die öffentliche Hand bezahlt diesen Schaden für die Memo-Institute, deren Aktivitäten aus Steuergeldern finanziert werden.

Wie sind die Schutzfristen zu regeln?

Im revidierten Urheberrecht sollten die Schutzfristen auf das international zugesagte Minimum reduziert werden. Die Schutzfrist von Urheberrechten sollte wieder auf 50 Jahre nach dem Tod des Urhebers festgelegt werden. Die Schutzfrist für “verwandte Schutzrechte” sollte bei den aktuell geltenden 50 Jahren nach der Publikation bleiben und nicht verlängert werden.

Gibt es einen Kompromiss?

Zwischen der Bewahrung des kulturellen Erbes und der Begehrlichkeit der Tonträgerproduzenten, wäre ein Kompromiss denkbar, wenn die Schutzfrist dann beendet würde, wenn eine Aufnahme während mehr als 3 Jahren nicht im Handel verfügbar ist. Denn dann machen die Rechteinhaber offenbar keinen Profit damit. Und Werke, die im Handel sind, gehen dem kulturellen Erbe nicht verloren.

Ceterum Censeo

Nicht erst seit Frank Sinatra wissen wir, dass das multinationale Musikkonglomerat oft mit dem internationalen Verbechen eng verbandelt ist, denn es geht um wirklich grosses Geld. Seltsamerweise stören sich viele Parlamentarier - zu recht - an den Boni gewisser Bank- und Pharma-Manager. Die Einnahmen der Beatles, einer Madonna oder eines Michael-Jackson- oder Elvis-Presley-Rechteinhabers werden hingegen nicht hinterfragt. Es sind aber nur diese superreichen Rechteinhaber, die von den immer verlängerten Schutzfristen profitieren. Kein einziger Komponist oder Interpret hat etwas davon.

So überrascht es denn nicht, dass Schutzfristen eng zusammenhängen mit den pauschalen Zwangsabgaben, die den Charakter von erpressten Schutzgeldern haben.

Die lauten Forderer längerer Schutzfristen sind denn auch die Verwertungsgesellschaften, welche diese Schutzgelder in unkontrollierter Höhe einstreichen und den Erhalt von Kultur an Schulen und Hochschulen verhindern.

Aus diesem Grund sollte diesen Institutionen das Recht entzogen werden, pauschale Zwangsabgaben für Werke zu erheben, die von den Abgezockten nicht genutzt werden.

Das Recht auf Schutzgelderpressung der Verwertungsgesellschaften ist gänzlich aus dem Urheberrecht zu streichen.